Christian Stenner
Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,
wenn wir heute hier am Grazer Hauptplatz den 15. Mai Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerung begehen, dann tun wir das keineswegs allein, sondern als Teil einer breiten internationalen Bewegung. In diesen Tagen gibt es Aktionen und Proteste nicht nur in Wien und Graz, sondern auch in vielen deutschen Städten, in Italien, Litauen, im United Kingdom, in mehreren Städten in der Türkei, in Ungarn und einigen anderen Ländern.
Und das Datum hat auch schon Tradition: Seit den frühen achtziger Jahren wird an diesem Tag auf all jene aufmerksam gemacht, die sich dem Töten und Getötetwerden im Interesse der Mächtigen verweigern.
Wir alle, die wir in diesen Tagen auf die Straße gehen, sind davon überzeugt, dass Kriegsdienstverweigerung ein Menschenrecht ist. Und eigentlich ist das ja seit einem UNO-Beschluss 1987 der Fall. In der Realität gibt es allerdings viele Einschränkungen
Zum einen gibt es Länder, wo es nach wie vor entgegen diesem UNO-Beschluss kein Recht auf Wehrdienstverweigerung gibt – unter anderem Aserbaidschan, die Türkei und Israel – von Diktaturen wie Nordkorea einmal ganz abgesehen.
Zum anderen ist in den meisten Staaten die Verweigerung des Wehrdienstes nur in Friedenszeiten und vor einer Einberufung möglich – jedoch nicht mehr, wenn sich ein Land im Krieg befindet. Das betrifft jetzt im Besonderen die Kriegsdienstverweigerer aus Russland und der Ukraine, aber auch aus Belarus.
Es gibt mindestens 250.000 Militärdienstpflichtige aus Russland, die seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine das Land verlassen haben und Schutz in anderen Ländern suchen. Schätzungsweise 22.000 belarussische Militärdienstpflichtige haben ihr Land verlassen, weil sie fürchten, dass ihr Land sich am Krieg gegen die Ukraine beteiligen könnte.
Was die Ukraine betrifft, wird die Zahl der Männer, die versuchen, sich dem Kriegsdienst zu entziehen und in die EU geflohen sind, auf 325.000 geschätzt.
Das sind Zahlen, die von der deutschen NGO Connexion erhoben wurden, die sich um Kriegsdienstverweigerer und Deserteure kümmert und sie unterstützt.
Und das sind keine geringen Zahlen.
Dabei haben Wehrdienstverweigerer und Deserteure mit scharfen Konsequenzen zu rechnen:
In Russland drohen Wehrdienstverweigerern bis zu 13 Jahre Haft, seit Kriegsbeginn sollen zumindest 20.000 Menschen wegen kriegskritischer Aussagen zu Geld- oder Haftstrafen verurteilt worden sein. Bekannte Kriegsgegner wie der Sozialwissenschafter Boris Kagarlitzky wurden wie zu den Zeiten des Zaren und Stalins nach Sibirien deportiert. Im Februar dieses Jahres wurde seine Strafe auf fünf Jahre Strafkolonie verschärft.
Nach einem neuen, Anfang des Jahres beschlossenen Gesetz sollen Kriegsgegner enteignet werden können – diese Bestimmung wendet sich direkt gegen all jene, die ins Ausland geflohen sind, um sich dem Kriegsdienst zu entziehen.
In der Ukraine wurde der Generalssekretär der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung, Yurii Sheliazhenko, Anfang August angeklagt und unter Hausarrest gestellt, weil er sich für das Recht auf Wehrdienstverweigerung und gegen jeden Krieg gewandt hatte – und obwohl die Pazifistische Bewegung den russischen Einmarsch scharf verurteilt hatte. Sie soll nun behördlich verboten und aufgelöst werden. Das Recht auf Wehrdienstverweigerung wurde ausgesetzt. Über 20.000 Männer, die sich dem Kriegsdienst entziehen wollten, wurden seit Kriegsbeginn an der Grenze festgenommen. Wem die Flucht gelungen ist, dem wird nun die Verlängerung seiner Personalpapiere verweigert, damit er heimkehren muss und eingezogen werden kann.
Nun sollte man meinen, dass zumindest russische Deserteure angesichts der doch eindeutigen Parteinahme der Europäischen Union für die überfallene Ukraine auf die Unterstützung des Westens zählen könnten. Leider ist dies keineswegs der Fall; von den zehntausend Asylansuchen, die russische Deserteure in der EU gestellt haben, wurde nur ein geringer Teil positiv beschieden. In der Tageszeitung “Der Standard” wurde im Juni vergangenen Jahres der Fall eines burjatischen Deserteurs geschildert, dessen Asylansuchen in Österreich unter anderem mit der Begründung abgelehnt wurde „die Behörde könne nicht davon ausgehen, dass die russische Armee systematische Menschenrechts- bzw. Völkerrechtsverletzungen begeht.”
Welchen Schluss soll man daraus ziehen? Noch wichtiger als die Unterstützung einer Kriegspartei und die Schwächung von deren Gegner ist den Regierungen im Westen offenbar die Aufrechterhaltung der Kriegsdisziplin als universelles Prinzip. Denn Kriegsdienstverweigerer und Deserteure drohen ja nicht nur die Kampfkraft ihres Staates zu schwächen. Sie stellen auch ganz allgemein die Sinnhaftigkeit von Gewalt und Blutvergießen als Mittel zur Lösung von Konflikten in Frage. Durch ihre Verweigerung stärken sie die Zweifel daran, ob territoriale Ansprüche von Regierungen es wert sind, sein einmaliges und unwiderbringliches Leben am Schlachtfeld auszuhauchen.
Ganz dieser Logik folgend hielt übrigens auch der inzwischen ausgetauschte ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnik, es für, ich zitiere: “einen falschen Ansatz”, russischen Wehrdienstverweigerern Asyl zu gewähren.
Wir würden der Sache des Friedens und des Lebens einen schlechten Dienst erweisen, wenn wir uns nicht gegen diese zynische Haltung erheben würden:
Wir sind davon überzeugt, dass junge Männer und auch Frauen, die sich aus welchen Gründen immer der Militärmaschine entziehen, unterstützt werden müssen. Sie sind, ob bewusst oder nicht, Teil einer Bewegung, die Schluss machen will mit der Gewalt als Mittel zur – angeblichen – Lösung von Konflikten.
„Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin …“ Dieser alte Ausspruch enthält, auch wenn er uns abgenutzt und illusionär erscheint, eine banale Wahrheit: Je mehr Menschen sich auf allen Seiten der Kriegsmaschinerie der Herrschenden zu entziehen versuchen, desto weniger Legitimation hat die gewaltsame Lösung von Konflikten.
Die existierenden Machtblöcke sind in der Kriegslogik gefangen und drohen in ihren Kämpfen um Vormachtstellung unseren Planeten in ein globales Schlachtfeld zu verwandeln. Die Entscheidung, nicht am Morden und Vernichten teilzunehmen, stärkt hingegen alle, die der Menschheit eine Zukunft geben wollen.
Die Forderung nach Asyl für Kriegsdienstverweigerer und -verweigerinnen, die wir heute hier lautstark erheben, ist also nicht nur deswegen legitim, weil es dabei um ein Menschenrecht geht. Jede Unterstützung von Kriegsdienstverweigerern ist gleichzeitig auch ein Beitrag für eine friedliche Zukunft Österreichs, Europas und der Welt.