Dokumentation der Enquête vom 10.12.2022 im Literaturhaus Graz

„Die aktive Neutralitätspolitik wieder vom Rand ins Zentrum holen“

Fakten- und erkenntnisbasiert und vom einhelligen Willen der über 120 TeilnehmerInnen getragen, die Neutralität gerade in einer Zeit als Mittel der Friedenssicherung beizubehalten und auszubauen: So verlief die erste Enquete der Grazer Initiative für Frieden und Neutralität am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, im Literaturhaus.

Die Initiative hatte eingeladen, die Grazer Stadtregierung mit einem gemeinsamen Beschluss aller Stadtsenatsparteien das Vorhaben unterstützt, drei hochkarätige ReferentInnen – Univ.-Prof Heinz Gärtner, Wien; Assoz.Prof.in Claudia Brunner, Klagenfurt und Dr. Pascal Lottaz, Tokio – und ein erfahrener Moderator – Dr. Peter Huemer – wirkten am Podium.

Am Podium, von links: Univ.-Prof. Dr. Heinz Gärtner, Assoz.-Prof.in Dr. Claudia Brunner, Dr. Peter Huemer (Moderation), Dr. Pascal Lottaz

Kahr: „Niemals der Waffen- und Aufrüstungslogik folgen“

Für die Initiative leitete Sigrid Binder mit den Schlusssätzen aus Marlene Streeruwitz‘ jüngst erschienenem „Handbuch gegen den Krieg“ ein: Wir werden unsere Leben ernster nehmen müssen darin, in welchen Zusammenhängen und mit welchen Folgen wir in der Welt sind. Das Recht auf Frieden gilt weltweit. Das Recht auf Frieden weltweit durchzusetzen bedeutet gleichzeitig die Erhaltung der Welt demokratischerweise mitzudenken. Frieden für alle hieße alle Ressourcen für alle. Frieden ist ein anderes Wort für Gerechtigkeit.

Die Grazer Bürgermeisterin Elke Kahr stellte in ihren Begrüßungsworten fest, dass es derzeit in unserer Gesellschaft zu viele Moralisten und zu wenig Moral gebe; und: Aus Neutralität folge nicht Meinungslosigkeit, sondern das Gebot, „niemals einer Waffen- und Aufrüstungslogik zu folgen“.

Bürgermeisterin Elke Kahr begrüßte
Publikum und ReferentInnen

Neutralität ist mehr als ein außenpolitisches Instrument

Dr. Pascal Lottaz, Neutralitätsforscher und Professor für Europäische Politik an der Temple University in Tokio, gründete sein Referat auf sechs Thesen: Neutralität sei immer aktiv, biete Schutz vor Solidarität mit der falschen Seite, sei nicht heroisch, sondern immer pragmatisch, weiters ein nützliches Instrument der Außenpolitik, sei nicht automatisch mit Pazifismus gleichzusetzen und vor allem eine Alternative zur kollektiven Sicherheit (die auf Waffeneinsatz zurückgreift). Neutrale Staaten definierten sich nicht durch Äquidistanz zu den Konfliktparteien und Passivität ihnen und ihren Handlungen gegenüber (was man ihnen ja oft vorwirft), ihre Neutralität sei allein gegen den Krieg gerichtet. Neutralität schütze vor einem Angriff besser als die Teilnahme an einem Militärbündnis; so werde Finnland durch seinen NATO-Beitritt nun zum Frontstaat – zudem biete der Warschauer Pakt ein Beispiel dafür, dass Staaten sogar von Mitgliedern des „eigenen“ Bündnisses überfallen werden können. Neutrale Staaten seien jedenfalls dann am besten geschützt, wenn sie für eventuelle Konfliktparteien nützlich seien – etwa als Verhandler, Handelspartner usw.

Neutralität solle aber nicht nur als außenpolitisches Instrument einzelner Staaten gedacht werden, unterstrich Lottaz. Das Neutralitätsrecht, das bereits im 19. Jahrhundert entstanden sei, solle heute wieder aufgegriffen und weiterentwickelt werden – schließlich seien alle Versuche des 20. und 21. Jahrhunderts, Kriege durch das Verbot von Angriffskriegen und weltpolizeiliche Interventionen (wie von Völkerbund und UNO gefordert) in Griff zu bekommen, kläglich gescheitert. Bessere Wirkung verspreche die „Quarantäne von Konflikten“, z.B. durch die Schaffung neutraler Zonen.

Österreichische Neutralität: Kein Wunsch Moskaus, sondern Washingtons

Univ.-Prof. Dr. Heinz Gärtner, Vorsitzender des Beirats des International Institute for Peace und des Strategie- und sicherheitspolitischen Beirats des Österreichischen Bundesheers, ehemals Direktor des Österreichischen Instituts für Internationale Politik und Inhaber des Österreichischen Lehrstuhls an der Stanford-University, betonte in seinem Vortrag, dass der Neutralitätsgedanke entgegen landläufigen Vorstellungen kein Kind des Kalten Krieges sei, sondern seit dem frühen 19. Jahrhundert existiere; Schweden und die Schweiz waren die ersten Staaten, die sich selbst für neutral erklärten; schon zuvor, nämlich 1793, hatten die USA ihre Neutralität in Bezug auf den Ersten Koalitionskrieg deklariert. „Wenn es Polarisierungen gibt, gibt es auch immer Platz für Neutralität“, unterstrich Gärtner. Und er räumte mit einem viel bemühten Mythos auf: Entgegen landläufigen Vorstellungen gehen, so Gärtner, die österreichische und die finnische Neutralität nicht auf Wunsch der Sowjetunion, sondern auf jenen Eisenhowers zurück, der zur einzigen Bedingung machte, dass sie eine bewaffnete sein müsse. Die Führungsspitze der Sowjetunion war in dieser Frage gespalten: Außenminister Molotow war dagegen, Staats- und Parteichef Chruschtschow dafür.

Die österreichische Neutralität als Modell für Vorschläge zur Friedenssicherung

Die neutralen Staaten standen außerhalb der Blockbildung und konnten so politische Spielräume entwickeln, die für das Gesamtsystem von Nutzen waren. Gärtner verwies hierzu insbesondere auf die Schlussakte der OSZE-Konferenz von Helsinki von 1975, das zentrale Dokument der Entspannung am Höhepunkt des Kalten Krieges, welches „ohne die Vermittlungstätigkeit der neutralen Staaten und ohne das Engagement von Kreisky, Palme und später auch Brandt nicht zustande gekommen wäre.“

Österreich stand, so Gärtner, Modell für verschiedene Vorschläge von Neutralitätszonen; 1956 und 1957 gab es verschiedene diesbezügliche Vorschläge von westlicher Seite, z.B. von George F. Kennan, dem früheren amerikanischen Botschafter in Moskau sowie von einer überparteilichen Senatsinitiative; der polnische Außenminister Adam Rapacki schlug eine Neutralisierung Mitteleuropas in Verbindung mit einer atomwaffenfreien Zone vor, ein Plan, der von Seiten der NATO abgelehnt wurde.

Von der Bi- über die Uni- zur Multipolarität?

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die Welt nicht mehr bi- sondern monopolar: Russland stellte als geschwächter Nachfolgestaat der Sowjetunion keinen Machtpol mehr dar und China hatte diesen Status noch nicht erreicht; in den USA entstand der Gedanke vom „hegemonialen Frieden“ – der sich darauf gründet, dass der Hegemon schlicht keinen Herausforderer mehr hat. „Nichts kann falscher sein als das“, konstatiert Gärtner – der Balkan, der Irak, Afghanistan, Libyen und Syrien wurden in dieser Zeit zu Kriegsschauplätzen. 25% der militärischen Interventionen der USA seit dem 18. Jahrhundert fielen, so Gärtner, in diesen Zeitraum, „mehr als in der Zeit des Kalten Krieges“. Neutrale Staaten hatten in dieser Phase keinen Platz; die amerikanischen Botschafter in Österreich stellten in dieser Zeit mehrfach die Neutralität Österreichs in Frage, vor allem in Bezug auf Afghanistan.

Die derzeitig ausgerufene „Multipolarität“ hält Gärtner für einen Euphemismus, vielmehr sei von einer Großmachtkonkurrenz zwischen den USA, China und Russland auszugehen, alle anderen Pole wie etwa Japan oder Indien hätten maximal wirtschaftliche, aber keine militärische Macht. Die USA verfügten neben der NATO über weitere Bündnisse, v.a. im ostasiatischen Raum, Russland und China nahezu nur über bilaterale Bündnispartner.

Angriff auf die Ukraine: „Eine der dümmsten geopolitischen Entscheidungen seit dem Ende des Weltkrieges“

In der Zeit der Monopolarität weitete sich die NATO bis an die Grenzen Russlands aus, Russland habe sich aber auch von Chinas Seidenstraßeninitiative bedrängt gesehen. In dieser Situation fällte Putin die Entscheidung, die Ukraine anzugreifen, um die weitere NATO-Ausweitung zu stoppen. „Allerdings“, so Gärtner, „verursachte er damit genau das Gegenteil von dem, was er beabsichtigte: Die Ukraine wird zunehmend von der NATO unterstützt und ist auf dem Weg, Mitglied zu werden, Schweden und Finnland haben beschlossen, NATO-Mitglieder zu werden, die NATO stationiert permanent Truppen in den baltischen Staaten, Polen rüstet auf – es war eine der dümmsten geopolitischen Entscheidungen seit dem Ende des Weltkrieges, diesen Krieg zu beginnen.“ Im Ergebnis werde Russland geschwächt und aus der Großmachtkonkurrenz herausfallen, wobei die Gefahr bestehe, dass es „zu einer Art großem Nordkorea mit Nuklearwaffen wird“.

Bandwagoning oder Neutralität

In dieser von der Konkurrenz von Großmächten geprägten Weltlage stehen kleineren Staaten, so Gärtner, zwei Alternativen offen: Zum einen der Anschluss an eine Großmacht, das sogenannte „Bandwagoning“. Für diese Alternative optierten nun Finnland und Schweden, und auch die Ukraine habe bereits am Bukarester NATO-Gipfel 2008 eine entsprechende Ankündigung getroffen. Mit dem „Bandwagoning“ würden allerdings nicht nur Sicherheitsbedürfnisse erfüllt, sondern es seien auch Verpflichtungen damit verbunden: Wenn eine Großmacht in einen Krieg gezogen wird, müssen auch die kleinen Staaten des Bündnisses ihren Mann / ihre Frau stellen.

Dies stößt übrigens nicht auf mehrheitliche Begeisterung bei den BürgerInnen europäischer Länder: Laut einer von Gärtner zitierten Umfrage des European Council on Foreign Relations erklärten zwischen 60 und 65 Prozent der BürgerInnen europäischer Staaten – Österreich und die Schweiz waren nicht dabei – sie würden in einer möglichen Auseinandersetzung zwischen den USA und China lieber neutral bleiben.

„Engagierte“ vs. isolationistische Neutralität

Die zweite Möglichkeit für kleinere Staaten besteht darin, neutral zu bleiben und das „Entanglement“ zu vermeiden. Dafür müssten, so Gärtner, zwei Bedingungen erfüllt werden: Die proklamierte Neutralität müsse immer glaubwürdig sein, auch in Friedenszeiten – und die neutralen Staaten müssten nützlich sein. Die Ukraine sei nicht glaubwürdig neutral gewesen, da sie spätestens seit 2008 immer wieder betont habe, sie wolle eigentlich der NATO beitreten. Nützlichkeit wiederum könne sich unter anderem darin ausdrücken, als Pufferstaat zu fungieren – Schweden und Finnland seien von der Sowjetunion und später von Russland als Pufferstaaten angesehen worden, und es habe keine Anzeichen dafür gegeben, dass sie angegriffen werden sollten. „Jetzt sind sie jedenfalls gefährdeter als sie als neutrale Staaten waren“, fürchtet Gärtner.

Nützlichkeit kann sich auch darin ausdrücken, Vermittlertätigkeiten zu übernehmen und Gastgeber für Gipfeltreffen zu sein. Bruno Kreisky war sich dessen bewusst, dass Österreich als Gastgeberland für verschiedene internationale Organisationen weniger Gefahr laufe, Ziel eines atomaren Schlages zu werden. Nun habe sich die Situation dadurch geändert, dass Österreich an der gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU teilnehme, aber auch durch die Teilnahme an Übungen der NATO-Partnerschaft für den Frieden.

Neutralität bedeute aber niemals Gesinnungsneutralität, stellte Gärtner klar: So müsse natürlich auch ein neutrales Land im Fall von Menschenrechtsverletzungen seine Stimme erheben. Diese „engagierte Neutralität“ könnte die „aktive Neutralität“ der 70-er Jahre ablösen. Sie grenze sich auch von der isolationistischen Neutralität der Schweiz ab und sollte sich an folgende Leitlinie halten: „Einmischen so viel wie möglich, heraushalten so viel wie notwendig“.

An dieser Stelle setzte sich Gärtner auch mit einigen Argumenten auseinander, mit denen derzeit gegen die Neutralität Stimmung gemacht wird. An erster Stelle stehe dabei die Behauptung, dass niemand für unsere Sicherheit garantiere, wenn wir nicht einem Militärbündnis – konkret: der NATO – angehörten. Das sei eine rein militaristische Definition von Sicherheitsgarantien; Neutralität könne eine sehr hohe Garantie bieten, nicht angegriffen zu werden, mit der Ausnahme „sehr großer Kriege“, in denen auch neutrale Staaten wie Belgien attackiert wurden. Allerdings, so Gärtner, „bieten in so einem Fall auch militärische Bündnisse keine Garantie davor, nicht angegriffen zu werden, im Gegenteil.“

Nachkriegs-Perspektiven

Aus dem Ukrainekrieg könnten sich laut Gärtner zwei unterschiedliche Friedenskonzepte ergeben: Zum einen ein neuer Eiserner Vorhang, ein Cordon Sanitaire von der Arktis bis zum Schwarzen Meer, der wahrscheinlich die Ukraine teilen werde; die Alternative dazu sei eine permanente, verfassungs- und völkerrechtlich garantierte Neutralität der Ukraine nach österreichischem Vorbild, wie sie noch Ende März bei den Verhandlungen in Istanbul vorgeschlagen, dann aber von der Ukraine abgelehnt wurde.

Um den permanenten Cordon Sanitaire zu verhindern, könnte man, so Gärtner, sich auf die Schlussakte von Helsinki zurückbesinnen; diese enthalte kein einziges Mal Wörter wie Gegner, Feind, Herausforderer – Wörter, vor denen heutige Sicherheitsstrategien überquellen. Stattdessen sei darin die Rede von kollektiver Sicherheit, Entspannungspolitik usw. Diese Perspektive habe, ist Gärtner überzeugt, letztendlich auch zur Auflösung des Warschauer Paktes geführt, unter anderem habe sich die Charta 77 stark auf die Schlussakte von Helsinki gestützt. Die Europäer sollten jedenfalls alles tun, um einen Cordon Sanitaire zu verhindern; auf längere Sicht werde nämlich „Europa mit Russland alleinbleiben; die USA werden sich um ihre Großmachtkonkurrenz mit China kümmern müssen, und es wird einen doppelten globalen Konflikt geben – auf der einen Seite China vs. USA, auf der anderen Europa vs. Russland, wenn man nicht schon jetzt über globale Friedenskonzepte nachdenkt“.

Die Grammatik des Krieges

Abschließend behandelte Assoz.-Prof.in Drin Claudia Brunner vom Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung an der Uni Klagenfurt unter dem Vortragstitel „Stell dir vor, es ist Krieg – und keiner geht hin“ die aktuelle „diskursive, kognitive und affektive Militarisierung“.

Sie leitete ihr Referat mit drei Fragen ein: „Wie kommt es, dass das titelgebende einstige Motto der Friedensbewegung inzwischen auch in liberalen und linken Kreisen als naiv und unsolidarisch zu gelten scheint?“ „Warum hören wir seit Jahren keinen Widerspruch gegen steigende Militärbudgets, wenn man sich Ausgaben fürs Bildungswesen, Gesundheit, Armutsbekämpfung angeblich nicht mehr leisten kann?“ und: „Wie gelingt es einem immer martialischer bewaffneten Europa, sich nach wie vor als Friedensprojekt zu inszenieren, das auf humanistischen Werten und Gewaltfreiheit beruht?“. Ihr Blick richte sich nicht auf Zahlen und Fakten des Krieges, sondern auf den Sinnzusammenhang, „in dem uns diese begegnen“. Mit Marlene Streeruwitz sprach sie „von einer Grammatik des Krieges“, die wir zu erlernen hätten.

Gerade in Zeiten zunehmender Militarisierung der EU werde ihr „immanenter Friedenscharakter“ verstärkt beschworen. Zweifel erscheine in diesen Tagen schon als Kollaboration und werde als „Sofapazifismus“ diskreditiert, unhörbar oder lächerlich gemacht. Brunner kritisierte, dass eine Positionsnahme für den Frieden nicht mehr unter den Regenbogenfarben der „Peace“-Flagge, sondern vornehmlich unter den ukrainischen Nationalfarben geäußert werde. Wenn Ukrainer/innen dies täten, sei dies verständlich, da es sich beim angegriffenen Land um ihr eigenes und bei der auf dem Spiel stehenden Zukunft um ihre eigene handele, es sei aber befremdlich, wenn diese Art des Protestes von global denkenden, ja sogar von eigentlich antinationalistisch eingestellten Personen geäußert werde, die sonst nicht müde würden zu betonen, dass Nationalismus der größte Feind des europäischen Projektes sei.

Brunner kritisierte darüber hinaus die unterschiedliche Behandlung von Kriegsflüchtlingen – auch von solchen aus der Ukraine: „Junge Männer, die nicht nur den falschen Pass, sondern zumeist auch noch die falsche Haut- und Haarfarbe mit auf die Flucht nehmen müssen“ würden – auch wenn sie seit Jahren in der Ukraine leben oder dort studieren – nicht als Kriegsflüchtlinge mit den entsprechenden Rechten in die EU eingelassen. Russische Deserteure seien ebenso wenig willkommen.

Als Anschauungsmaterial für die allgemeine Militarisierung der Gesellschaft diente Brunner dann auch die Ansprache der österreichischen Verteidigungsministerin zum Nationalfeiertag; darin sei der Paradigmenwechsel vom einstigen Bundesheer-Motto „Schutz und Hilfe“ hin zum neuen Credo „Mission Vorwärts“ klar erkennbar gewesen, an dem sich auch die Zivilbevölkerung zu beteiligen habe. „Um sich wirksam zu entfalten, muss der militärische Geist durch alle Bereiche der Gesellschaft wehen“, zitierte Brunner dazu Karl Liebknecht und brachte eine Reihe von Beispielen für die Vereinnahmung des Zivilen durch das Militärische.

Embedded feminism

Dies führe zu einem Paradigmenwechsel: Einst linken und sich als antimilitaristisch und pazifistisch bezeichnenden PolitikerInnen und Teilen der Friedensbewegung und daraus hervorgegangenen Organisationen gelinge heute der Spagat zwischen der Berufung auf Menschenrechte und humanitäre Werte auf der einen und der bewaffneten Beteiligung an Kriegen und der bewährten Fortsetzung kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse auf der anderen Seite „bemerkenswert leichtfüßig“, die betreffenden Personen agierten als „Modernisierer/innen imperialer Verhältnisse“ (Helmut Krieger).

Aktuell könne man dies u.a. besonders an der Debatte über die „feministische Außenpolitik“ der Bundesrepublik Deutschland ablesen. Der Kernpunkt früherer Debatten – die Kritik an Militarismus und Krieg als Mittel der Politik – finde sich nun im öffentlichen Diskurs ausgespart, vielmehr sei ein „embedded feminism“ am Werk, der quasi „mit der Truppe“ unterwegs sei.

Dem hielt Brunner entgegen, das Zivile solle „der Raum der Existenzkritik des Militärischen bleiben“ und Gegenposition beziehen, dies auch angesichts der Rolle der Rüstungsindustrie.

Rüstungsfinanzierung aus dem EU-Haushalt

Am Rande ging Brunner auch auf die ökonomische Bedeutung des Krieges ein: „Die Dividenden steigen und die Proletarier fallen“, zitierte sie Rosa Luxemburg; „Die Schrecken des Krieges in der Ukraine haben auch Auswirkungen, die für die Rüstungsindustrie alles andere als schrecklich sind“. Unter Verweis auf Äußerungen des Friedensforschers Thomas Roithner wies Brunner darauf hin, dass die Europäische Union unter dem Label einer europäischen Globalstrategie in Sachen Sicherheits- und Friedenspolitik zig Milliarden Euro in Richtung Rüstungsforschung umschichte. Da Maßnahmen mit militärischen Bezügen laut EU-Vertrag nicht zu Lasten des EU-Haushaltes gehen dürften, wird dies u.a. durch Umetikettierung von Rüstungsforschung als Industrie- und Wettbewerbsförderung und durch die milliardenschwere „Europäische Friedensfazilität“ bewerkstelligt; unter letzterem Titel werden globale Militäreinsätze finanziert, die im Interesse der EU liegen, aber nicht von ihr selbst durchgeführt werden können.

„Frieden jetzt“ ist eine legitime Forderung

Abschließend reflektierte Brunner die Rolle der Friedensforschung in der aktuellen Situation: Sie habe Antworten – aber viele davon „passen nicht in das Format der Politikberatung eines kapitalistischen Weltsystems, das sich seit jeher auch mit Waffengewalt aufrechterhält.“ Frieden sei ein Prozess, Gewaltfreiheit sei ein Ringen und Friedensforschung habe kein Rezept, das sich einfach umsetzen ließe – weil Krieg kein Naturereignis sei und Frieden kein Konsumprodukt.

Darüber hinaus könne Friedensforschung allein, auch wenn sie Vorschläge zur Hand habe, wenig bewirken, dazu bedürfe es einer „großen und lauten Öffentlichkeit“. „Stoppt den Krieg“ und „Frieden jetzt“ seien legitime Forderungen, auch wenn sie nicht immer auf einem ausgearbeiteten Programm zu ihrer Umsetzung beruhten. Diese Forderungen seien nicht nur für die Betroffenen lebensnotwendig – angesichts der „nicht mehr fiktionalen“ atomaren Bedrohung und der kriegsbedingten Zerstörung von sozialen und natürlichen Lebensgrundlagen seien sie überlebensnotwendig für alle.

Pazifismus und Antimilitarismus seien notwendigerweise normativ und könnten nur verteidigt werden, wenn es zu gemeinsamem Handeln und zur gemeinsamen Verweigerung der militärischen Logik komme – im konkreten Fall auch gemeinsam mit Kriegsdienstverweigerern aus Russland und antimilitaristischen Stimmen aus der Ukraine. Es gehe letztendlich auch darum, aufzuzeigen, wie Akzeptanz für militärische Gewalt geschaffen werde und wie diese Logik „in uns selbst einsickert“. Ein solcher Antimilitarismus sollte, so Brunner, nicht nur den aktuellen Krieg und das Militär als Organisationsform des nationalstaatlichen Gewaltmonopols diskutieren; er müsse auch die Rolle des internationalen Militarismus als Mittel zur Aufrechterhaltung patriarchalkapitalistischer Herrschafts- und Ausbeutungsstrukturen ebenso wie von Privilegien und Profiten kritisieren.

Ein Signal am Tag der Menschenrechte

Die anschließende Diskussion berührte unter anderem verschiedene Aspekte der Genese des Krieges in der Ukraine; die meisten Redebeiträge brachten den Willen der Anwesenden zum Ausdruck, sich aktiv für eine rasche Beendigung des Krieges einzusetzen. In einer abschließenden Wortmeldung erläuterte Elfi Gaisbacher für die GIFFUN die Entstehungsgeschichte der Enquete: Die Mitglieder der Initiative – allesamt seit Jahrzehnten auch in der Friedensbewegung aktiv – hätten Verunsicherung darüber empfunden, dass angesichts des Überfalls auf die Ukraine die Stimmen gegen den Krieg verstummt seien. Mit der Veranstaltung habe man ein Signal setzen wollen, das Ziel der Initiative sei gewesen, am Tag der Menschenrechte in der Menschenrechtsstadt Graz gemeinsam mit der Stadt „die Debatte über aktive Friedens- und Neutralitätspolitik wieder vom Rand ins Zentrum zu holen“ – und dies sei angesichts des großen Interesses sicherlich gelungen.

Christian Stenner